Ausgangsfall: Fa. Zorn liefert Waren an den Schuldner. Der Schuldner bezahlt die Waren trotz mehrfacher Mahnungen nicht. Fa. Zorn erwirkt daher einen gerichtlichen Vollstreckungsbescheid (Urteil) über 5.000 € gegen den Schuldner. Da dieser auch dann nicht zahlt, beauftragt Fa. Zorn den Gerichtsvollzieher mit der Zwangsvollstreckung beim Schuldner.
Der Gerichtsvollzieher pfändet am 10.02.2022 aus der Bar-Kasse des Schuldners einen Betrag von 1.000 €. Der Gerichtsvollzieher bringt seine Kosten von 80,00 € in Abzug und überweist an Fa. Zorn die restlichen 920 €. Fa. Zorn freut sich. Allerdings stellt der Schuldner am 01.03.2022 einen Insolvenzantrag. Am 01.04.2022 wird das Insolvenzverfahren eröffnet.
Am 16.05.2022 erhält Fa. Zorn Post vom Insolvenzverwalter. Sie soll die vom Gerichtsvollzieher vereinnahmten 1.000 € an den Insolvenzverwalter herausgeben. Darf der Insolvenzverwalter tatsächlich die Rückzahlung verlangen?
Ja, er darf. Das ergibt sich aus den Regelungen in § 131 Abs. 1 Ziffer 1 InsO:
Fa. Zorn konnte zwar vom Schuldner verlangen, dass er 5.000 € an sie bezahlt. Allerdings wird eine Vereinnahmung von Geldern im Wege der Zwangsvollstreckung innerhalb der „kritischen Zeit“ von 3 Monaten vor Insolvenzantragstellung nicht mit einer freiwilligen Zahlung gleichgestellt. Juristisch spricht man davon, dass Fa. Zorn die vom Gerichtsvollzieher beigetriebenen 1.000 € nicht in der Art zu beanspruchen hatte. Das nennt man inkongruente Leistung.
Danach sind Rechtshandlungen anfechtbar, die einem Gläubiger eine Sicherung oder Befriedigung gewährt oder ermöglicht haben, die er nicht oder nicht in der Art oder nicht zu der Zeit zu beanspruchen hatte, wenn die Handlung im letzten Monat vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder nach diesem Antrag vorgenommen worden ist.
Die Zwangsvollstreckung durch den Gerichtsvollzieher erfolgte im letzten Monat vor Insolvenzantragstellung.
Bereits damit sind die Voraussetzungen für eine Insolvenzanfechtung erfüllt. Mehr muss der Insolvenzverwalter nicht vorbringen. Es spielt daher auch keine Rolle, ob Sie als Gläubiger gewusst haben, dass der Schuldner sich in Zahlungsnöten befindet und Sie durch die Zwangsvollstreckung vielleicht besser bedient werden als andere Gläubiger.
Warum müssen Sie aber nicht nur 920 € herausgeben? Kosten, die Sie im Zusammenhang mit der Zwangsvollstreckung hatten wie die Gebühren des Gerichtsvollziehers, können leider nicht in Abzug gebracht werden. Nur das, was der Schuldner bezahlt hat, zählt. Das waren hier 1.000 €.
Variante 1: Der Schuldner bezahlt die am 05.04.2022 fällige Rechnung bereits am 02.04.2022, damit Fa. Zorn weitere Waren auf Zahlungsziel liefert, die der Schuldner für ein Bauvorhaben benötigt.
Auch diese Zahlung ist ein Fall des § 131 Abs. 1 Ziffer 1 InsO: Die Zahlung hätte erst am 05.04.2022 gefordert werden können. Die Zahlung vom 02.04.2022 ist also eine Zahlung, welche Fa. Zorn zu der Zeit nicht zu beanspruchen hatte. Auch hier freut sich der Insolvenzverwalter.
Variante 2: Der Gerichtsvollzieher im Ausgangsbeispiel war fleißig. Er hat bereits mehrfach in die Barkasse des Schuldners vollstreckt. Am 17.12.2021 hat er bereits 700 € vereinnahmt, am 13.01.2022 weitere 850 €.
Hier kommt § 131 Abs. 1 Ziffer 2 InsO zum Zug:
Danach sind Rechtshandlungen anfechtbar, die einem Gläubiger eine Sicherung oder Befriedigung gewährt oder ermöglicht haben, die er nicht oder nicht in der Art oder nicht zu der Zeit zu beanspruchen hatte, wenn die Handlung im zweiten oder dritten Monat vor dem Eröffnungsantrag vorgenommen worden ist und der Schuldner zur Zeit der Handlung zahlungsunfähig war.
Der Insolvenzverwalter muss hier zusätzlich zur Vereinnahmung der beiden Beträge im Wege der Zwangsvollstreckung nur noch nachweisen, dass diese innerhalb der des zweiten oder dritten Monats erfolgt ist und dass der Schuldner zahlungsunfähig war. Letztes wird ihm in den meisten Fällen gelingen. Die Erfahrung zeigt, dass viele Schuldner schon längere Zeit vor der Insolvenzantragstellung zahlungsunfähig waren. Der Insolvenzverwalter kann also die beiden Beträge herausverlangen.
Auch hier kommt es nicht darauf an, ob der Gläubiger etwas von der Misere des Schuldners wusste. Es spielt auch keine Rolle, dass der Schuldner bei einer Zwangsvollstreckung eigentlich gar nichts getan hat, sondern nur der Gläubiger. Letzteres reicht schon aus. Allerdings lohnt es sich, bei jedem Einzelfall genauer hinzuschauen. Vielleicht lässt sich das Vorbringen des Insolvenzverwalters bezüglich der Zahlungsunfähigkeit zumindest teilweise entkräften. Damit eröffnet sich ein Spielraum für Verhandlungen mit dem Insolvenzverwalter.
Variante 3: Die Geschäftsführerin der Fa. Zorn ist eine Schwester des Schuldners. Sie wusste, dass der Schuldner erhebliche Zahlungsrückstände auch bei anderen Lieferanten hat.
Auch hier wird der Insolvenzverwalter mit hoher Wahrscheinlichkeit erfolgreich sein:
Nach § 131 Abs. 1 Ziffer 3 InsO sind Rechtshandlungen anfechtbar, die einem Gläubiger eine Sicherung oder Befriedigung gewährt oder ermöglicht haben, die er nicht oder nicht in der Art oder nicht zu der Zeit zu beanspruchen hatte,
wenn die Handlung im zweiten oder dritten Monat vor dem Eröffnungsantrag vorgenommen worden ist und dem Gläubiger zur Zeit der Handlung bekannt war, dass sie die Insolvenzgläubiger benachteiligte.
Eine solche Kenntnis der Benachteiligung der anderen Insolvenzgläubiger wird dann vermutet, wenn der Gläubiger Umstände kannte, die zwingend auf eine Benachteiligung schließen ließen, § 131 Abs. 2 InsO.
Bei nahestehenden Personen wird außerdem vermutet, dass Ihnen die Benachteiligung der anderen Gläubiger bekannt war, § 131 Abs. 2 InsO.
Was „nahestehende Person“ bedeutet, wird in § 138 InsO definiert. Danach sind nahestehende Personen z.B. der Ehegatte eines Schuldners, näher definierte Verwandte wie Geschwister oder Personen, mit denen der Schuldner in häuslicher Gemeinschaft lebt. Handelt es sich bei dem Schuldner um ein Unternehmen wie z.B. einer GmbH, so gibt es auch dafür Regeln, wer als „nahestehend“ anzusehen ist. So ist z.B. der Geschäftsführer oder sein Ehepartner und nähe bezeichnete Verwandte eine nahestehende Person des Schuldners, also der GmbH.
In Variante 3 ist die Geschäftsführerin der Fa. Zorn als Schwester des Schuldners eine solche nahestehende Person. Ihr Wissen um die Zahlungsprobleme wird wiederum der Fa. Zorn zugerechnet, d.h. das Wissen der Geschäftsführerin wird wie das Wissen der Fa. Zorn behandelt.
Doch auch hier gilt: Gesetzliche Vermutungen können widerlegt werden. Hier hilft fundiertes Wissen auf dem Gebiet der Insolvenzanfechtung. Gerne helfen wir Ihnen weiter.
Fortsetzung folgt – weitere Fälle zu Anfechtungen innerhalb der letzten drei Monate vor Insolvenzantragstellung.
Advosolve Fachanwaltskanzlei, 01.06.2022
Mannheim, Karlsruhe, Heidelberg